23.08.2019: Haselnussküste und Sonnenblumenhochebene

2019-08-24 4 Von Christoph

Entlang der Schwarzmeerküste und ins anatolische Hochland

Ein neues Land, ein neuer Abschnitt liegen vor uns. Es geht in die Türkei. Er wird eingeläutet durch ein heftiges Gewitter in der Nacht. Wir rechneten schon mit einer weiteren Hängepartie, aber als es um 10 Uhr zu regnen aufhört und der Vermieter uns eh sagte, dass er den Raum für die nächsten Gäste benötigt, brechen wir schnell auf. Die Grenze in die Türkei ist schnell passiert, uns stehen einige hundert Küstenkilometer bevor. Bis Samsun wollen wir an der Küste bleiben und dann nach Süden abbiegen, um in Gümüshaciköy die Akkus für Ibo’s Elektrikli Bisiklet abzuholen. Erol, ein freundlicher Deutsch-Türke aus der Nachbarschaft von Gertraud hat sich bereit erklärt, diese im Auto mit in die Türkei zu nehmen.

Die erste Tagesstation ist die Stadt Rize, das Schwarze Meer ist zwar nicht schwarz hier, aber dafür sind es die steinigen Küsten. Ein starker Wind von Norden läßt riesige Wellen auf die Steinküste prallen. Zum Teil sprüht die Gischt bis zur Straße hinauf und staubt uns ein. Die Fahrt entlang der türkischen Schwarzmeerküste ist von Ost nach West wesentlich interessanter als umgekehrt. Wir fahren auf der Meer-Seite und sehen viel „meer“, andersrum ist man zu weit entfernt und sieht häufig nur die Leitplanken der mehrspurigen Schnellstraßen.
Rize empfängt uns im Stadtzentrum mit riesigen Porträts vom derzeitigen Sultan der Türkei. Wie sind erschrocken, das scheint ja noch mehr Personenkult zu sein als bei den Herrschern in Tajikistan oder Kasachstan. Später – in anderen Städten – sehen wir das allerdings nicht mehr. Der Bürgermeister von Rize scheint wohl ein glühender Verehrer von Erdogan zu sein.
In diesem ersten Abschnitt von Georgien kommend, reicht das Bergland häufig nah an die Küste, entsprechend steil sind die Abhänge und von der Grenze über Rize bis Trabzon sieht man viele mit Teebüschen bebaute Hänge. Kein Wunder, dass es eine Vielzahl von Teestuben gibt. Der Türke trinkt den ganzen Tag den hier sehr stark zubereiteten Schwarztee. Zum Frühstück, nach dem Essen und auch oft zwischendurch. Den türkischen Mokka gibt es auch, aber er wird bei weitem seltener serviert.
Viele Bäckereien, Sesamkringerl, Weißbrot in verschiedenen Backformen, aber vor allem zuckersüße Leckereien bestimmen das Stadtbild und veranlassen so die eine oder andere Zwischenmahlzeit.
In Trabzon, einer der größten Städte an der türkischen Schwarzmeerküste, staunen wir über das aktive Leben, gleich mehrere Straßen im Stadtzentrum sind Fußgängerbereich, rund herum stauen sich die Autos und zwängen sich durch wo es gerade geht.
Vor der Weiterfahrt schauen wir uns noch eine der Hauptsehenswürdigkeiten an, die Ayasofia Kirche. Oder ist es eine Moschee? Sie wurde als christliche Kirche im 13. Jahrhundert erbaut, was man natürlich an der Architektur sieht. Die Geschichte des Gebäudes im byzantinischen Stil war abwechslungsreich. Ab 1460, als ein Sultan Trabzon eroberte, wurde die Kirche in eine Moschee umgewandelt. Sie war ein Hospital im ersten Weltkrieg, wieder eine Moschee, ein Museum bis 2013 und ist jetzt wieder Moschee. Der Glockenturm wurde sogar eine zeitlang als Leuchtturm für die Schifffahrt genutzt. Die Lage, der Baustil, aber vor allem die ursprünglichen Fresken sind sehenwert und wir haben uns gefreut, wieder etwas abendländische Baukunst und Kultur zu sehen.

Unser Radexpress lief hervorragend diese Tage. Die Straße war gut und nicht zu steil, es gab kaum Gegenwind, da kommt man flott voran. Mit einer iranischen Radlergruppe kamen wir näher ins Gespräch, sie luden uns ein mit ihnen Tee zuzubereiten und trinken und sie wären am liebsten mit uns weitergefahren. Sie waren unterwegs nach Istanbul, um von dort mit dem Zug in ihr Land zurückzufahren. Allerdings waren sie auf einem „Low-Budget-Trip“ und das hat mit unseren Hotelübernachtungen gar nicht zusammengepasst. Trotzdem war es nett und interessant sie zu treffen und uns auszutauschen.

Rize, Trabzon, Tirebolu, Orde, Unye und schließlich Samsun waren unsere Stationen an der Küste.
Auf dem Abschnitt ab Trabzon wird kein Tee mehr angebaut, sondern die gesamten Hänge zum Meer sind mit Haselnusssträuchern bewachsen. Nach dem Pflücken der „Haselnussreben“ werden diese neben den Straßen zum Trocknen ausgebreitet, eine Art „Dreschmaschine“ löst dann die Nüsse aus dem Grünzeug und die rohen Nüsse werden erneut auf Planen zum Trocknen ausgelegt.
An den Straßen gibt es viele Verkaufsstellen, an denen die „Findiks“, wie die Haselnüsse auf türkisch heißen, verkauft werden.
Wir wurden zweimal „überschüttet“ mit einem Sack voll Nüsse, einmal hat uns ein 80-jähriger Türke beschenkt, der in den Siebziger-Jahren Gastarbeiter in Hamburg war. Seine Augen haben geleuchtet als er auf St. Pauli zu sprechen kam. Das zweite Mal bekamen wir Nüsse als wir an einem steilen Anstieg ins Hinterland bei einem Haus um etwas Wasser baten. Die Tage danach war Nüsseknacken angesagt, gut dass wir Multi-tools dabei haben. Ich glaube wir fahren immer noch welche mit uns rum.
Die menschlichen Erlebnisse sind erstaunlich. Aishe, zum Beispiel, ein Mittdreißigerin, hat bestimmt eine Stunde für uns aufgewendet, um uns bei der Hotelsuche in Ordu behilflich zu sein. Sie hat uns dann im „Lehrerhotel“ (einfache aber sehr günstige Hotels, die staatlich subventioniert werden) untergebracht, dann auch noch einen nahegelegenen Platz bei einem Freund organisiert, an dem wir die Fahrräder sicher aufbewahren konnten. Und das alles obwohl sie gerade dabei war, die Geburtstagsparty für ihren Mann am selben Abend zu organisieren. Sie planen gerade eine Europareise mit dem Fahrrad und ihre bisherigen Bemühungen übers Internet, Privatquartiere zu finden, waren wenig erfolgreich. Sie bekam meistens nicht mal Antworten. Da war die Frage an uns nicht verwunderlich, warum man wenig Unterstützung bzw. Hilfe in Deutschland oder Europa findet. Die Antwort blieben wir etwas verlegen schuldig.
Wir machten zufällig an einer Polizei-Kontrollstation Pause als wir einen schattigen Platz für eine kurze Rast suchten. Ein Polizist bat uns „herein“, in die Station, mehr oder weniger ein Zelt, befestigt mit Wällen und metallenen Schutzschildern. Gleich waren wir Mittelpunkt in dieser Gruppe von Verkehrspolizisten, Drogenfahndern und Terroristenabwehr-Spezialisten, die uns schwer bewaffnet beobachteten. Einer rief dann seine Mama an, die wohl etwas Englisch konnte und mich ausfragte Woher, Wohin, Warum….
Als er erkannte wie harmlos wir waren, verschwanden die Terrorexperten wieder, die Stationspolizisten versorgten uns dann mit Produkten aus „eigenem Anbau“: Tomaten, Gurken, Melonen… das alles wächst vortrefflich unter polizeilicher Aufsicht und Kontrolle auf dem Schutzwall vor der Station.

Eine weitere bemerkenswerte Bekanntschaft ist Adem. Er wohnt seit 40 Jahren in Deutschland (Frankfurt), ist eingebürgert, hat auch seine Familie dort, verbringt aber viele Monate im Jahr in seiner Heimatstadt Unye. Er hat uns ein Restaurant empfohlen, aufgepasst dass der Wirt, sein Freund, uns „gut behandelt“, uns eine Bierkneipe gezeigt, da war klar, dass wir gerne ein paar Halbe mit ihm getestet haben.
Thema Bier: Die meisten Lokale dürfen keinen Alkohol ausschenken und nur wenige Läden haben eine Konzession Alkohol verkaufen zu dürfen. Das sieht für uns dann so aus, dass wir Wasser zum Essen trinken, uns danach einen Bierladen suchen, die Dosen oder Flaschen getarnt im schwarzen Beutel oder in Zeitungspapier gewickelt, heimtragen und die Feierabendhalbe im Hotelzimmer trinken. Prost!

Jetzt noch zu Erol, ein Nachbar von Gertraud und Walter, der mit seiner Familie gerade in die Türkei gefahren kam und die E-Bike Akkus von Ibo’s Rad mitgebracht hat. Wir haben einen netten Abend mit Erol und Bianca und deren Tochter Jasmin verbracht bzw. auch mit den Eltern von Erol sowie weiteren Verwandten. Ein ganz besonderes Dankeschön an Erol auch dafür, dass er uns in die Abläufe eines Hammam-Besuches (und zwar kein touristisches sondern ein Einheimischen-Hammam) eingeführt hat. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes ganz schön ins Schwitzen gekommen. Dass das Radeln am nächsten Tag allerdings „wie von selbst“ geht, wie Erol angekündigt hat, kann ich nicht bestätigen.

Noch eine ganz tolle menschliche Begegnung möchte ich erwähnen, die Einladung zu einer Familie zum Mittagessen. Auf der Suche nach einer Kneipe in einem Dorf hat uns Fatih zu sich mit nach Hause genommen. Wir bekamen viel Gutes aus dem Garten vorgesetzt, Tomaten, Gurken, Auberginen, Suppe, Bratkartoffel, Melonen, Oliven, Yoghurt, Käse, Haselnüsse und einiges mehr. Die Großfamilie, die zum Teil in Izmir oder anderen Städten in der Türkei lebt und sich gerade zum Opferfest zuhause getroffen hat, war überaus interessiert an unserer Unternehmung, unseren Familien und Berufen und war auch offen über sich selbst zu sprechen. Lustigerweise war der Name der Familie Findik, Haselnuss.
Die Fahrt von Samsun nach Süden, die Überquerung des pontischen Gebirges, war dann wieder der Wechsel in eine andere Welt. Weite, leicht hügelige Landschaften prägen das zentralanatolische Hochland. Riesige Getreidefelder lassen den Eindruck kanadischer Prärien entstehen, vielerorts werden auch Sonnenblumen und Tabak angebaut. Es gibt nur wenige Dörfer und Städte und diese sind in leichten Geländeeinschnitten angesiedelt, so dass man sie oftmals erst sieht, wenn man kurz davor ist.
Das Highlight in dieser Region – östlich von Ankara – war dann der Besuch von Hattusa, der Hauptstadt des Reiches der Hethiter, das in den Jahren 1600 – 1200 v. Chr. seine Hochblüte erlebte. Die Überreste dieser Ansiedlung wurden 1836 entdeckt, aber erst im 20. Jhd. ausgegraben und teilweise restauriert. Besonders gut erhalten sind einige Bereiche der Stadtmauer, das Löwentor, das Sphinxtor und das Königstor. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ist Hattusas UNESCO Weltkulturerbe.

Gestern erreichten wir Kayseri, die Hauptstadt der Region Kappadokien. Mit 1.4 Millionen Einwohnern ist es eine bedeutende Stadt in der Zentraltürkei. Im Zentrum gibt es eine alte Burg zu sehen, Reste der Stadtmauer, eine große Moschee und einen überdachten Basar. Auch hier trifft man immer wieder „deutsche“ Türken, die jetzt im August auf Heimaturlaub sind und sehr schnell erkennen wo wir herkommen und dann ihre Hilfe anbieten, uns zu einem Tee einladen, oder einfach stolz fragen ob uns ihre Türkei gefällt.

Von Tiflis durch Georgien und die Schwarzmeerküste entlang bis Samsun, dann weiter von Samsun bis hierher nach Kayseri in Zentralanatolien. Ca. 1600 km haben wir die letzen 21 Tage zurückgelegt und wieder gscheit Gas gegeben, nach dem „lazy Juli“ sind wir jetzt wieder in Schwung gekommen.
Muss auch sein, wir wollen uns ja nicht blamieren vor Ibo. Sie kommt heute Nacht nach Kayseri, damit wird das Team aufgestockt und ich freue mich natürlich ganz überaus, dass wir uns jetzt hier schon wiedersehen und gemeinsam weiterradeln, hoamzua. Auch die neue Route über Kappadokien/Göreme, Salda See, Pamukkale, Ephesus und Izmir bietet uns viele Gelegenheiten die Regionen wiederzusehen, die wir vor 32 Jahren bereist haben. Wir freuen uns sehr darauf.

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